Was ist NLP?

Die vergangenen Jahrzehnte erlebten den Aufstieg eines Forschungsfelds, das unter der extravagant anmutenden Bezeichnung „Neurolinguistisches Programmieren“ weit über die Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit erregte. Heftig bekämpft und enthusiastisch gefeiert ist das NLP heute aus vielen Bereichen kaum wegzudenken.

Gleichwohl geht diese Erfolgsgeschichte mit nachhaltiger Verwirrung einher: lösungsorientierte Psychotherapie und Beratung, Seminare für Esoteriker, Trainings in Wirtschaft und Verwaltung sowie Schulungen für Ärzte, Lehrer und Dienstleister treten ebenso als „NLP“ in Erscheinung wie simpel gestrickte Ratgeber und die spektakulären Bühnenshows einiger NLP-geschulter Entertainer. Es überrascht kaum, daß Zerrbilder des NLP die öffentliche Meinung beherrschen.

Neben fachlicher Kritik bestehen erhebliche Zweifel, welche die ethische Integrität des NLP betreffen: „Was ist dieses NLP“, „Welche Werte und Menschenbilder werden hier transportiert?“ und „Wer wendet es mit welchen Zielsetzungen an?“ – Fragen, die keineswegs zu Unrecht von einer kritischen Öffentlichkeit gestellt werden.

Ein Großteil der Kritik richtet sich gegen die vollmundigen Versprechungen der Szene. Zu lautstark pries mancher Anbieter seine Wunderkraft ? Veränderung ist möglich! Erfolg in Beruf und Liebe garantiert! …

Vergessen wurde jedoch allzu häufig, daß nicht „das NLP“ als solches wirksam ist. Erst die Persönlichkeit des Anwenders, die ihr Verhalten nach NLP-Prinzipien organisiert, haucht dem toten Skelett der Techniken und Methoden Leben ein. Welch Wunder also, daß potentiell Erreichbares und faktisch Bewirktes oft meilenweit auseinanderklaffen.

Neben dem Vorwurf ungezügelter Hybris wird auch der Verdacht laut, NLP lehre, anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen. Die Vorstellung, „verdeckt geankert“ und klammheimlich manipuliert zu werden, bereitet vielen Kritikern Unbehagen.

Doch auch innerhalb der Szene sind seit langem Risse spürbar. „Selbstlose Menschenhelfer“ und „erfolgssüchtige Yuppies“ streiten um den richtigen Weg. Die internen Debatten um Anthony Robbins (und seinen Trittbrettfahrer Ratelband) haben gezeigt, wie zwiespältig die Szene selbst auf diese Entwicklung reagierte.

Die neuerlichen Versuche Richard Bandlers, den im deutschsprachigen Raum gefundenen Konsens systematisch durch einige oberflächliche Schmalspurtrainer seiner „Society of NLP“ zu unterlaufen, harren hingegen noch ihrer Entdeckung.

 

Die Anfänge des Neurolinguistischen Programmierens

Die Ursprünge des NLP reichen bis in das Jahr 1972 zurück. Eine Gruppe jugendlicher Forscher hatte sich in jener Zeit auf den Weg gemacht, die Möglichkeiten des menschlichen Potentials auszuloten. Kristallisationskern ihrer Forschungsarbeit waren die ungewöhnlichen Ideen zweier Männer, deren Arbeit neue Horizonte eröffnen sollte.

Richard Bandler, unermüdlicher Motor und Antreiber des Projekts, war damals gerade 22 Jahre alt. Er studierte Mathematik und Computerwissenschaften an der University of California in Santa Cruz. Seit längerem begeisterte er sich aber für zeitgenössische Psychotherapie. Durch seine Bekanntschaft mit Robert S. Spitzer, dem Präsidenten des Verlagshauses Science & Behavior Books (Palo Alto), hatte er schon früh Gelegenheit, einigen Koryphäen des Fachs persönlich zu begegnen. Daher konnte er aus erster Hand von ihnen lernen.

John Grinder – zunächst Supervisor, dann Partner Bandlers – arbeitete als Assistenzprofessor für Linguistik unter dem berühmten Anthropologen Gregory Bateson am Kresge College derselben Hochschule. In seinen jungen Jahren hatte er als Undercoveragent für die CIA gearbeitet. Einsatzorte waren Deutschland, Italien und Jugoslawien. Zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Bandler war er dabei, ein linguistisches Lehrbuch zu veröffentlichen. Gegenstand war die Transformationsgrammatik Noam Chomskys.

Zusammen mit Leslie Cameron , Judith DeLozier, Frank Pucelik, Byron Lewis, David Gordon, Stephen Gilligan, Maribeth Anderson, Jim Eicher, Paul Carter, Terrence McClendon und Robert Dilts entwickelten Bandler und Grinder im Laufe weniger Jahre die Grundlagen des NLP.1

Judith DeLozier, Mitentwicklerin der ersten Stunde, beschrieb den Beginn des „Projekts NLP“ wie folgt:

„Diese Fachrichtung, die als NLP bekannt ist, begann – eigentlich schon bevor sie überhaupt einen Namen hatte – mit einer Gruppe von interdisziplinär arbeitenden Leuten. Diese Leute waren dadurch motiviert, daß sie in gleicher Weise neugierig darauf waren, wie wir lernen, wissen und kommunizieren, wie wir uns verändern und wie wir den Prozeß der Veränderung in einer wohlgeformten Weise beeinflussen können.

Es gab Gruppen, die sich im Dunstkreis der University of California in Santa Cruz (UCSC) trafen. Der Fokus lag auf Diskussionen, Prüf- und Meßverfahren, Prozessen und der Art, das eigene subjektive Erleben zu dekodieren … Es war … ein ziemlich neuer, junger Kampus der Universität und es gab an der Universität die Vision, daß etwas Interdisziplinäres entstehen könnte. Ich hatte das Gefühl, daß dies die Entwicklung des NLP begünstigte.“2


Das Versagen der Psychotherapieforschung

Die Initialzündung für das Projekt kam aus der akademischen Therapieforschung. Hier versuchte man seit Ende der 50er Jahre, Wirkfaktoren der Psychotherapie dingfest zu machen. Befangen in einem allzu engen Wissenschaftsverständnis hatte man aber kaum praxisrelevante Ergebnisse vorzuweisen.

Dieser Mißstand war aufs Engste mit dem Vorgehen akademischer Forscher verknüpft: Zunächst klassifizierte man abstrakt mögliche Einflußgrößen. Diese Variablen wurden dann isoliert und im Rahmen experimenteller Settings überprüft. Empirische Studien sollten so Schlußfolgerungen über die Wirksamkeit einzelner Elemente erlauben.

Meist waren die Ergebnisse derartiger Experimente – ganz in der Tradition exakter naturwissenschaftlicher Forschung – in Form statistisch ermittelter Zahlenwerte formuliert. Daher führten diese Untersuchungen lediglich zu losen Sammlungen von Erkenntnissen, die kaum nutzbare Zusammenhänge untereinander aufwiesen.

Zwar hatte man viele Einflußvariablen überprüft, doch wurde es versäumt, die Ergebnisse so zu formulieren, daß sie für die therapeutische Praxis fruchtbar gemacht werden konnten.3

 

Die Forschungen der Palo-Alto-Gruppe und des MRI

Vielversprechender war hier der Zugang Gregory Batesons. Er erforschte seit den 30er Jahren in transkulturell angelegten Studien die Bedeutung der Kommunikation für menschliches Erleben und Verhalten. Seit Ende der 40er Jahre hatte er sich zunehmend bemüht, psychotherapeutische Theorie und Praxis im Rahmen einer kybernetisch konzipierten Theorie der Kommunikation zu diskutieren.

1956 war ihm – zusammen mit den Psychiatern Jay Haley und Don D. Jackson sowie dem Chemotechniker John H. Weakland – der Entwurf einer neuartigen Sichtweise gelungen. Sie machte die „Geisteskrankheit Schizophrenie“ als Resultat destruktiver Interaktionsmuster verständlich.4

Diese – als „Double-Bind“-Hypothese berühmt gewordene – Auffassung war zugleich Ausgangspunkt jenes Zweiges der Psychotherapie, der heute unter dem Begriff „Familientherapie“ fest im Feld der Klinischen Psychologie verankert ist.5

1958 begegnete Don Jackson erstmals Virginia Satir. Sie arbeitete seit Jahren – als erste Therapeutin überhaupt – mit vollständigen Familien. Viele Familientherapeuten der ersten Generation waren von ihr ausgebildet worden.

Gemeinsam mit Jules Riskin gründeten Jackson und Satir 1959 das Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto. Hier wollte man auf der Grundlage systemischer Konzepte den Zusammenhang zwischen Gesundheit/Krankheit und familiären Interaktionsmustern erforschen. Bateson, Haley und Weakland übernahmen eine beratende Funktion.

Knapp zwei Jahre später stieß Paul Watzlawick dazu. Inspiriert von den genialen Interventionen des Hypnotherapeuten Milton H. Ericksons und der Pionierarbeit Virginia Satirs bemühte man sich jetzt, Grundprinzipien therapeutischer Strategien auszuarbeiten.

Dabei ließ man sich stark von theoretischen Konzepten aus Mathematik, formaler Logik, Kybernetik, Informationstheorie und Biologie leiten. Die wichtigsten Erträge der Forschungen wurden in drei Büchern veröffentlicht, die nach wie vor zu den Klassikern des Gebiets gerechnet werden können.6

 

Der Neuansatz Bandlers und Grinders

Bandler und Grinder griffen diese Arbeiten auf, erweiterten sie jedoch um einen neuartigen Zugang. Sie rückten die unmittelbaren Interaktionen zwischen Therapeut und Klient in den Brennpunkt des Interesses. Ihr Ziel war, herauszufinden, was genau erfolgreiche Therapeuten tun.

Rupprecht Weerth beschrieb die konzeptionelle Ausgangslage der NLP-Entwickler wie folgt:

„Es gibt … eine Vielzahl von unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen und Einzelverfahren … Die meisten therapeutischen Verfahren weisen in etwa ähnliche Erfolgsquoten auf, allerdings im Einzelfall nicht sicher vorhersagbar und längst nicht in dem Ausmaß, wie es die jeweils zugrundeliegende Theorie und Methode verspricht.

Therapeuten, die nach gleichen Verfahren arbeiten, erreichen ihre Therapieziele, auch wenn sie nach „Lehrbuch“ alles richtig machen, nur in sehr unterschiedlichem Maß. Offensichtlich, so folgerten Bandler und Grinder, liegt der Therapieerfolg nicht so sehr an dem gewählten Verfahren als vielmehr an dem jeweiligen Therapeuten, der das Verfahren anwendet.

Wenn das stimmt, dann haben erfolgreiche Therapeuten kommunikative Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die in dem jeweils bewußt zugrundegelegten Therapiemodell nicht explizit enthalten sind und daher in der Ausbildung zu diesem Verfahren auch nicht explizit gelehrt werden. Ursprüngliches Ziel von Bandler und Grinder war, diese nicht oder nur teilweise bewußten kommunikativen Fähigkeiten und Verhaltensweisen erfolgreicher Psychotherapeuten unterschiedlicher Schulen systematisch auf ihre gemeinsamen grundlegenden Regeln und Muster hin zu untersuchen und zu vergleichen, um so die eigentlichen Wirkfaktoren erfolgreicher Therapie bestimmen und an andere weitervermitteln zu können.“7

Ausgangspunkt der NLP-Entwickler war also der Versuch, typische Kommunikationsmuster effektiver Menschenhelfer aufzudecken. Deren explizite Beschreibung sollte es möglich machen, therapeutische Fertigkeiten lehr- und lernbar zu machen.

Zu diesem Zweck studierten Bandler und Grinder das Kommunikationsverhalten dreier ausgewiesener Meister ihres Fachs: Fritz Perls (Gestalttherapie), Virginia Satir (Familientherapie) und Milton H. Erickson (Hypnosetherapie).

Batesons kybernetische Kommunikationstheorie, seine Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation, die linguistischen Theorien Chomskys und Korzybskis sowie das Konzept der „Repräsentationssysteme“ bildeten jetzt die Beschreibungsmatrix für das, was zwischen Therapeut und Klient geschieht.

Dabei interessierte man sich lediglich für die technische Seite des Könnens von Perls, Satir und Erickson. Ihre ethischen Überzeugungen und humanistischen Werte, ihre Anliegen und Visionen wurden weitgehend getilgt – ein folgenschwerer Entschluß!

Zunächst konzentrierten sich Bandler und Grinder auf linguistische Analysen der Sprachmuster Perls‘, Satirs und Ericksons. Dann gingen sie zu einer Beschreibung ihres nonverbalen Verhaltens über.

Damit einhergehend spielte zunehmend die Erforschung subjektiven Erlebens eine tragende Rolle. Unter Rückgriff auf Millers, Galanters und Pribrams „T.O.T.E.-Modell“ schufen die NLP-Entwickler schließlich das „Strategie-Konzept“.8 Jetzt waren sie in der Lage, wesentliche Prozesse menschlicher Wahrnehmung, subjektiver Informationsverarbeitung, Handlungssteuerung und Kommunikation hinreichend genau und plausibel in Form strukturierter Modelle zu beschreiben.9

Die „Black Box“ der Behavioristen hatte sich aufgetan, doch war damit nicht auch die Büchse der Pandora geöffnet?

Unter der Hand hatte sich das Erkenntnisinteresse Bandlers und Grinders immer mehr auf die allgemeine Dekodierung und Beeinflussung menschlicher Subjektivität verlagert.

Psychotherapie – verstanden als Entschlüsselung und Veränderung unbewußter Verhaltens- und Erlebensmuster („neurolinguistische Programme“) – entpuppte sich dabei zunehmend als lediglich partielles Anwendungsfeld ihrer Modelle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man entdeckte, daß die NLP-Modelle auch auf andere Gebiete übertragen werden konnten. Doch noch wurde dieser Schritt nicht vollzogen.

 

Die Entwicklung bis 1977

Auf der Basis ihrer damaligen Erkenntnisse entwickelten Bandler und Grinder therapeutische Veränderungsmethoden, die eine bis dahin für unmöglich gehaltene Wirksamkeit aufwiesen. Erstmals war therapeutischer Erfolg – wenn auch abhängig von der Kunstfertigkeit des Anwenders – kalkulier- und wiederholbar geworden. Meta-Modell und Milton-Modell, Rapportstrategien und Ankertechniken sowie Reframing-Methoden und Strategiearbeit waren die Teile jenes Puzzles, das den Ruf des NLP als „ultimative Therapiemethode“ begründete.

Innerhalb der therapeutischen Szene verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Öffentliche NLP-Seminare, die seit 1976 angeboten wurden, waren lange im Voraus ausgebucht. Man hatte den Nerv der Zeit getroffen: Dem Wühlen in seelischen Altlasten wurde eine Absage erteilt. Gefragt war die schnelle und zielbewußte Veränderung. Erstmals schien es möglich, einschränkende Muster des Erlebens und Verhaltens mit einer bis dahin unbekannten Einfachheit und Eleganz durch günstigere Gewohnheiten zu ersetzen. Psychotherapeutische Arbeit bekam so eine Richtung, die klare Kriterien für Erfolge und Fehlschläge zuließ.

John O. Stevens alias Steve Andreas – ehemaliger Gestalttherapeut und bedeutender NLP-Co-Entwickler – artikulierte die damit verbundene Euphorie wie folgt:

„Mit Hilfe der Prinzipien des NLP können Sie jede menschliche Aktivität detailliert genug beschreiben, um viele tiefgreifende und dauerhafte Veränderungen schnell und ohne Anstrengung herbeiführen zu können.

Einige spezifische Beispiele dessen, was sie lernen können: (1) Phobien und andere unerfreuliche Gefühlsreaktionen in weniger als einer Stunde zu kurieren, (2) Kindern und Erwachsenen mit „Lernstörungen“ (Buchstabier- und Leseschwierigkeiten, usw.) bei der Überwindung ihrer Begrenzungen zu helfen – oft in weniger als einer Stunde, (3) unerwünschte Gewohnheiten in wenigen Sitzungen zu eliminieren, Rauchen, Trinken, Fettsucht, Schlaflosigkeit, usw., (4) die Interaktion von Paaren, Familien und Organisationen so zu verändern, daß sie befriedigender und produktiver werden, (5) viele körperliche Schwierigkeiten in wenigen Sitzungen zu kurieren – nicht nur die meisten derjenigen, die als „psychosomatisch“ eingeschätzt werden, sondern auch einige andere. Dies sind schwerwiegende Behauptungen – erfahrene NLP-Praktiker können sie mit soliden, sichtbaren Ergebnissen belegen.“10

Eine der bedeutendsten Errungenschaften des NLP war aber zweifellos die rückhaltlose Anerkennung menschlicher Subjektivität. Indem subjektives Erleben erforscht und in seiner Erscheinungsform und Reichhaltigkeit gewürdigt wurde, erhielten Normierungen und Stereotypen eine klare Absage. Damit blieb der Klient – zumindest bis zu einem gewissen Grad – vor schulenbedingten Glaubenssystemen und Interpretationen des Therapeuten geschützt.

Bandler, Grinder und Satir bemerkten hierzu in einem frühen Grundlagenwerk des NLP:

„Viele therapeutische Modelle ließen sich anscheinend in der Vergangenheit von der Vorstellung eines idealen Menschen leiten, was zu Konzepten von Vorgehensweisen zur Persönlichkeitsveränderung in Richtung auf dieses Idealbild führte.

Wir glauben, daß es kein allgemeingültiges Modell für das menschliche Wesen gibt, daß vielmehr jeder Mensch eine Vorstellung von seinem Idealbild hat. Die Überzeugung von der Einzigartigkeit eines menschlichen Individuums erfüllt uns mit Freude. Sie spiegelt die Intentionen unserer Therapie und befindet sich in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der modernen Biologie.“11

Insgesamt lag der Fokus der frühen NLP-Anwendung – nicht zuletzt durch den starken Einfluß Virginia Satirs, die über Jahre hinweg eng mit Richard Bandler und John Grinder zusammenarbeitete – in erster Linie auf dem Bestreben, gangbare Wege zur Linderung von Leid zu eröffnen. Dabei wurde dort zur Selbstverwirklichung ermuntert, wo Grenzen und Integrität anderer gewahrt blieben. Die sorgfältige Ausbalancierung aller Interessen – intrapsychisch wie interpersonal – war das Leitmotiv therapeutischen Tuns.

 

Die Zeit nach 1978

Ende der 70er Jahre begann man, die neu geschaffene Technologie auch auf andere Gebiete zu übertragen.

Man erforschte jetzt Denkprozesse von Menschen, die durch herausragende Leistungen auf sich aufmerksam gemacht hatten: geniale Schachspieler und Physiker, Künstler und Lehrer sowie Spitzenverkäufer und etliche Meister anderer Gebiete. Kommunikations- und Kreativitätsstrategien wurden analysiert, Motivations- und Entscheidungsfindungsprozesse modelliert. Das daraus resultierende Wissen wurde in offenen Workshops anderen Menschen zur Verfügung gestellt.

Die erweiterten Anwendungskontexte des NLP lagen ursprünglich im Gesundheitswesen, in Schulen und in der Erziehung. Doch auch Militär und Wirtschaft zeigten bald ihr Interesse: Piloten- und Scharfschützendrills, Führungs-und Verhandlungstrainings, Personalauswahl, Team-Building und Organisationsentwicklung, aber auch Werbung und Verkauf boten reichhaltige Einsatzmöglichkeiten.

Der unglaubliche Erfolg des NLP brachte aber auch Kehrseiten mit sich. Persönliche Geschäftsinteressen und berufliche Strapazen führten zu massiven Spannungen. Konkurrenzdenken machte sich breit. Bandler und Grinder erkannten immer mehr, daß die Bühne nicht groß genug für beide war. Auch die anderen Gruppenmitglieder gingen ihrer Wege. Die ursprüngliche Gruppe zerfiel.

Immer mehr neue Anwendungsgebiete wurden erschlossen und schließlich lehrte man NLP in wechselnden Partnerschaften rund um die Welt.

 

Das „Power-NLP“ von Anthony Robbins

Mitte der 80er Jahre betrat Anthony Robbins die Szene. Er sollte das Gesicht des NLP von Grund auf verändern. Gerade 24 Jahre alt, stand er am Beginn einer atemberaubenden Karriere. Ein medienwirksamer Cocktail aus unerhörtem Talent, selbst geschaffenem Reichtum und zur Schau gestelltem sozialem Engagement machte ihn binnen kurzem zu einem der bekanntesten Vertreter des NLP.

Robbins trug enorm zur Popularisierung des NLP bei. Sein Einfluß markierte jedoch auch den Scheidepunkt, an dem das NLP seine Unschuld verlor und einer – zu weiten Teilen naiven – Optimierungsstrategie zum Opfer fiel.

Robbins‘ Botschaft kreiste um die Begriffe „Power“ (etwa: persönliche Kraft/Macht) und „Success“ (Erfolg). NLP diente ihm vor allem dazu, Spitzenleistungen zu modellieren und für sich selbst umzusetzen. Mit Feuerläufen und aufsehenerregenden Medienauftritten, in weltweit verkauften Bestsellern und spektakulären Massenveranstaltungen verkündete er seine Version des amerikanischen Traums: „Sieh‘ her! Alles ist möglich, wenn Du es nur wirklich willst …“

Nun ist die Wendung des NLP auf beruflichen und finanziellen Erfolg keineswegs in sich verwerflich. Weshalb – so mag man sich fragen – sollte NLP nicht auch dazu dienen, selbst glücklich und erfolgreich zu leben?

Und dennoch – die Art und Weise der NLP-Rezeption Robbins‘ bietet Anlaß zu ernsthaften Bedenken. Strukturell erinnert Robbins‘ Optimierungsstrategie in vielem an die ideologischen Vorgaben einer auf Profitmaximierung ausgerichteten Industriegesellschaft. Einge O-Ton-Slogans, die charakteristisch für seinen Zugang sind, lauten: „Erwecke den Riesen in Dir!“, „Überwinde Deine Grenzen!“, „Übernimm‘ die Kontrolle über Dein Leben!“, „Meistere Deine Gefühle!“, „Erhöhe deine Leistungskraft“, „Maximiere Deine Fähigkeiten!“, „Verdreifache Dein Einkommen!“, „Werde zum Herrn Deines Schicksals!“

All dies – so seine Verheißung – ist möglich, wenn innere Prozesse und (kommunikatives) Verhalten perfektioniert und vollständig auf die Erreichung spezifischer Ziele ausgerichtet sind.

Lästige Bedenken? Klarer Fall für ein Reframe. Hemmende Überzeugungen? Kein Problem – einfach gegen günstigere Glaubenssätze austauschen. Erfolgssabotierende Werte? Höchste Zeit, sie durch andere zu ersetzen. Der Mensch als beliebig veränderbare Psychostruktur – hier ein Schräubchen festziehen, dort ein Zahnrädchen auswechseln und schon wird Clark Kent zu Superman.

Dabei redet Robbins keineswegs egomanischem Erfolgstreben das Wort. Im Gegenteil – stets zeigt er sich bemüht, Liebe und Altruismus wachzuhalten. Er selbst hat umfangreiche karitative Programme ins Leben gerufen.

Und doch – es bleibt ein Unbehagen! Zu leichtfertig wird ihm die bloße Faszination an Einfluß, Macht und Erfolg zum Maß aller Dinge. So schreibt er etwa:

„Denken Sie an die Menschen, die unsere Welt verändert haben ? John F. Kennedy, Thomas Jefferson, Martin Luther King Jr., Franklin Delano Roosevelt, Winston Churchill, Mahatma Gandhi. Oder denken Sie – mit weitaus unbehaglicheren Gefühlen – etwa an Hitler. All diese Männer hatten eines gemeinsam – sie waren Meister der Kommunikation. Sie konnten ihre Visionen, ob es sich nun darum handelte, Menschen in den Weltraum zu transportieren oder ein von blindem Haß getriebenes Reich zu schaffen, mit einer derartigen Vollkommenheit an andere weitergeben, daß sie beeinflußt haben, wie Massen von Menschen dachten und handelten. Durch die Macht der Kommunikation haben sie die Welt verändert.

Ist es nicht genau dasselbe, was einen Spielberg, einen Springsteen, einen Iacocca, einen Fonda oder einen Reagan von anderen Menschen unterscheidet? Sind sie nicht alle Meister im Umgang mit dem Werkzeug der menschlichen Kommunikation oder der Beeinflussung anderer?“12

Bedenklich ist auch die naive Perspektive, die Robbins zu seinem Gegenstand einnimmt. Machtpolitische Konstellationen, knallharte wirtschaftliche Interessen und soziale Konflikte bleiben ausgeblendet. Die ewige Illusion des amerikanischen Traums ignoriert auch hier die einfache Tatsache, daß an der Spitze kein Platz für alle ist!

Und überhaupt – wie sähe eine Welt aus, in der noch mehr Menschen nach der Maximierung von Geld, Einfluß und Status streben? Wird damit nicht auf anderer Ebene jener Irrtum reproduziert, der die gegenwärtige Bedrohung des globalen Gleichgewichts heraufbeschwor? Hatte nicht Gregory Bateson – der geistige Vater des „NLP-Ökologie“-Gedankens – schon früh vor der fatalen Ehe zwischen kurzsichtiger „bewußter Zwecksetzung“ und zur Perfektion getriebener „Technologie“ gewarnt?

In einem Vortrag aus dem Jahre 1968 sagte er:

„Das Bewußtsein … ist im Sinne der Zwecksetzung organisiert …, nicht um mit einem Höchstmaß an Weisheit zu handeln und zu leben, sondern dem kürzesten logischen oder kausalen Weg zu folgen, um zu erreichen, was man als nächstes möchte: zum Beispiel ein Abendessen, … eine Beethoven-Sonate … oder Sex. Vor allem kann es auch Geld oder Macht sein.

Bewußtsein und Zwecksetzung sind seit mindestens einer Million Jahren Charakteristika des Menschen gewesen, und sie können uns auch schon viel länger begleitet haben. … Sie könnten also sagen: „Warum sich darüber den Kopf zerbrechen?“

Was mir aber Sorge bereitet, ist die Erweiterung des alten Systems um die moderne Technologie. … Bewußte Zwecksetzung hat nun die Macht, das Gleichgewicht des Körpers, der Gesellschaft und der biologischen Welt um uns herum über den Haufen zu werfen. …

Folgt man den Anweisungen des „Common sense“ für das Bewußtsein, dann wird man effektiv gierig und unweise – wobei ich das Wort „Weisheit“ … für das Erkennen und die Führung durch ein Wissen um die systemische Natur der Schöpfung verwende. Mangel an systemischer Weisheit rächt sich immer.“13

Dies – so Bateson – gilt auch für den Umgang des Menschen mit anderen und sich selbst. Eindringlich warnt er vor der Gefahr der Selbstüberschätzung und den Verlockungen des kurzfristig Machbaren. Er schreibt:

„Entsprechend ist im Bereich der Psychiatrie die Familie ein kybernetisches System … und wenn Systemkrankheiten auftreten, machen die Mitglieder gewöhnlich einander oder manchmal auch sich selbst verantwortlich.

In Wahrheit sind aber beide Alternativen im Grunde arrogant. Jede der Alternativen geht davon aus, daß das individuelle menschliche Wesen totale Macht über das System hat, von dem es einen Teil bildet. Selbst innerhalb des individuellen menschlichen Wesens ist die Kontrolle eingeschränkt. Wir können uns in gewissem Maße dazu bringen, selbst so abstrakte Charakteristika wie Arroganz oder Demut zu lernen, aber wir sind keineswegs die Kapitäne unserer Seele.“14


Das Janusgesicht des NLP

Blickt man von heute zurück, so rufen die zweifellos epochalen Leistungen Bandlers und Grinders auch durchaus zwiespältige Gefühle wach: Findet man auf der einen Seite schlicht geniale Einsichten und Vorgehensweisen, so birgt der ausdrückliche Verzicht auf eine ethische Verankerung des NLP doch auch den Keim für spätere Fehlentwicklungen in sich.

Die frühe Preisgabe des humanistischen Menschenbilds Perls‘, Satirs und Ericksons zugunsten der Einfachheit und Geradlinigkeit der Modelle hatte zugleich den Grundstein für das Selbstverständnis des NLP als „reine Kommunikationstechnologie“ (Werkzeugkasten) gelegt.

Bandler und Grinder wiederholten mit diesem Zugang einen fundamentalen Irrtum moderner Wisssenschaft. Sie isolierten die technischen Fertigkeiten von dem geistigen Hintergrund, auf dem sie entstanden sind. Ein solches Vorgehen beruht aber im Kern auf der Annahme, daß Technik an sich wertfrei ist. Die Frage nach Zielen, Ethik und Verantwortung bleibt damit unbeantwortet.

Auf diese Weise ergibt sich für das NLP dasselbe Dilemma, das die frühen Atomphysiker über Jahrzehnte hinweg fast zur Verzweiflung trieb: Das enorme Potential des NLP läßt sich nicht nur sinnvoll nutzen. Es eignet sich ebenso dazu, in gefährlicher Weise mißbraucht zu werden, da ihm – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – keinerlei ethische Haltung immanent ist.

Man hatte wesentliche Werte zwar durchaus abstrakt in das Konzept der „Wohlgeformtheitsbedingungen für Veränderungen“ (Ökologie) und die NLP-Vorannahmen eingebettet. Vieles spricht jedoch dafür, daß das Bewußtsein von der zentralen Bedeutung dieser Aspekte des NLP im Laufe seiner Verbreitung zugunsten eines selbstverliebten Machbarkeitswahns in den Hintergrund gedrängt wurde.

In der Tat räumte John Grinder vor einigen Jahren selbstkritisch ein, daß er und Bandler damals nicht weit genug gedacht hatten. Anläßlich eines Workshops im Jahre 1986 sagte er:

„Ich bin in den letzten … Monaten von einer Reihe von engen Freunden und Bekannten besucht worden – alles sehr gut ausgebildete, sehr fähige, kreative Personen, die buchstäblich Meister in der Technologie sind, die … ich selbst und eine Reihe anderer Leute maßgeblich formuliert oder explizit dargestellt haben.

Doch sie stießen, wie einer von ihnen es ausdrückte, auf Schritt und Tritt mit der Welt zusammen. Sie waren erfolgreich und sehr fähig, was das Erreichen kurzfristiger Ziele angeht. Doch es war, als gäbe es langfristig einen Mangel an Weisheit in der Art der Entscheidungen, die sie trafen.“15

Doch wie der selbstgeschaffenen Falle entrinnen? … Chancen und Gefahren des NLP zu erkennen, persönliche Zielsetzungen und Werte aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren, sich der eigenen Grenzen bewußt zu bleiben, das Mögliche nicht mit dem Faktischen zu verwechseln,

NLP als Projekt und nicht als ideologischen Religionsersatz oder allein seligmachenden „Stein der Weisen“ zu begreifen, sondern kritisch weiterzuforschen und scheinbare Gewißheiten in Frage zu stellen, könnten erste Schritte auf dem Weg sein, sich diese verlorene Weisheit wieder anzueignen.

  1. Eine umfassende Darstellung der Entstehungsgeschichte und theoretischen Hintergründe des NLP findet sich in Walker, Wolfgang: Abenteuer Kommunikation. Bateson, Perls, Satir, Erickson und die Anfänge des Neurolinguistischen Programmierens (NLP), Klett-Cotta, Stuttgart 1996 []
  2. Interview mit Judith DeLozier, in: Multi Mind ? NLP aktuell, Letter 6, Nov./Dez. 1993, S.36 []
  3. Eine brillante und ausgezeichnet aufbereitete Darstellung der frühen Forschungsergebnisse akademischer Therapieforschung findet sich in Frank, Jerome D.: Die Heiler – Wirkungsweisen psychotherapeutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien. Klett-Cotta, Stuttgart 1981 (orig.: Persuasion and Healing ? A Comparative Study of Psychotherapy. Baltimore, London: The John Hopkins University Press 1961). []
  4. Bateson, Gregory / Jackson, Don D. / Haley, Jay / Weakland, John H.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie (orig.: Toward a Theory of Schizophrenia. In: Behavioral Science, Vol.I/4, 1956, S.251-264). Dt. Erstveröffentl. in Bateson, Gregory: Die Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 (orig.: Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology. Chandler Publishing Company 1972), S.270-301 []
  5. Die Entstehung systemischer Konzepte in der Psychotherapie wird ausführlich in Walker 1996, S.47-103 sowie S.153-169 beschrieben. []
  6. Das Grundlagenwerk zur Kommunikationsforschung der Palo-Alto-Schule ist Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet H./ Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. Verlag Hans Huber, Bern Stuttgart Toronto 1969/1990 (orig.: Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes. New York: W. W. Norton & Company Inc. 1967). Erste Ergebnisse zur Theorie der Veränderung wurden vorgelegt in Watzlawick, Paul/ Weakland, John/ Fisch, Richard: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Verlag Hans Huber. Bern 1974/19925 (orig.: Change. Principles of Problem Formation and Problem Resolution. New York: W. W. Norton & Company, Inc. 1974). Eine – stark an die Arbeit Milton H. Ericksons angelehnte – Studie zur therapeutischen Kommunikation findet sich in Watzlawick, Paul: Die Möglichkeit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation. Huber Verlag, Bern Stuttgart Toronto 1977 []
  7. Weerth, Rupprecht: NLP & Imagination. Grundannahmen, Methoden, Möglichkeiten, Grenzen. Junfermann, Paderborn 1992, S.7f []
  8. Das NLP-Strategiekonzept ist Gegenstand des Buches von Dilts, Robert/ Grinder, John/ Bandler, Richard/ Bandler-Cameron, Leslie/ DeLozier, Judith: Strukturen subjektiver Erfahrung – Ihre Erforschung und Veränderung durch NLP. Junfermann, Paderborn 1985 (orig.: Neuro-Linguistic Programming: Volume I. Cupertino: Meta Publications 1980) []
  9. Vgl. dazu Walker 1996, S.243-276 []
  10. Stevens, John O.: Vorwort. In Bandler, Richard/ Grinder, John: Neue Wege der Kurzzeit-Therapie. Neurolinguistische Programme. Junfermann, Paderborn 1981b (orig.: Frogs into Princes. Moab/Utah: Real People Press 1979), S.13f []
  11. Bandler, Richard/ Grinder, John/ Satir, Virginia: Mit Familien reden. Gesprächsmuster und therapeutische Veränderung. Verlag J. Pfeiffer, München 1978 (orig.: Changing With Families. A Book About Further Education For Being Human. Palo Alto: Science & Behavior Books 1976), S.11 []
  12. Anthony Robbins: Grenzenlose Energie. Das Power-Prinzip ? Wie Sie Ihre persönlichen Schwächen in positive Energie verwandeln. Wilhelm Heyne Verlag, München 1991/1997 (orig.: Unlimited Power. New York: Simon & Schuster 1986), S.24 []
  13. Bateson, Gregory: Bewußte Zwecksetzung versus Natur. Dt. Erstveröffentl. in Bateson 1985, S. 549-565 (orig.: Conscious Purpose versus Nature. In: Cooper, David (Ed.): The Dialectics of Liberation. Harmondsworth/England, Baltimore/Maryland, Victoria/Australia: Penguin Books, Pelican Books 1968) S. 558-559 []
  14. Ebd. S.564 []
  15. Grinder, John/ DeLozier, Judith: Der Reigen der Daimonen – Vorbedingungen persönlichen Genies. Junferman, Paderborn 1995 (orig.: Turtles All The Way Down – Prerequisites to Personal Genius. Bonny Doon/California: Grinder, DeLozier and Associates 1987), S.30 []

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